Vor zwei Tagen habe ich Der verlorene Sohn im Kino gesehen. Der Film mit Lucas Hedges in der Rolle des Jared Eamons handelt von einem jungen Erwachsenen, Jared, der auf Verlangen seines Vaters eine Anstalt aufsucht, in der Homosexuelle umgepolt und wieder zur ‚Normalität‘ zurückgeführt werden sollen. Nachdem wir den Saal verlassen hatten, beschloss ich, meine Gedanken und Gefühle zum Film in eine Rezension zu packen. Viel Spaß beim Lesen! 🙂
Der verlorene Sohn basiert auf den Memoiren des Schriftstellers Garrard Conley. Ich habe das Buch Boy Erased nicht gelesen und kann deshalb nicht beurteilen, wie gut – oder wie schlecht – die Adaption in diesem Fall durchgeführt worden ist. Meine Meinung bezieht sich ausschließlich auf den Film.
ACHTUNG SPOILER! Wer Der verlorene Sohn noch sehen möchte, sollte sich diese Rezension nicht durchlesen!
Die schauspielerische Leistung, die Lucas Hedges in Der verlorene Sohn abliefert, ist grandios. Zu recht wurde er für den Golden Globe als Bester Schauspieler in einem Filmdrama nominiert. Warum er bei den Academy Awards ohne Nominierung dastand: Daran sind nicht seine Leistungen und auch nicht das Thema, sondern der Film selbst Schuld. Wäre Der verlorene Sohn eine ‚rundere Angelegenheit‘, hätte sich das zweifelsohne in Preisnominierungen widergespiegelt. In keinem Jahr waren zum Beispiel die Oscars so divers wie 2019. Warum das letztendlich nicht geklappt hat, liegt auf der Hand, sofern man das Argument der Relevanz ruhen lässt und den Film unabhängig von seinem schwerwiegenden Thema betrachtet.
Die Montage des verlorenen Sohnes ist, wie ich finde, mehr als unglücklich gelaufen. Durch den Gebrauch verschiedener Zeitebenen wurde die Geschichte von Jared Eamons in großen Teilen rückblickend erzählt. Ich weiß nicht, ob sich fünf Semester Filmwissenschaftsstudium langsam bemerkbar machen oder mich das ein oder andere Seminar in Filmanalyse verkorkst hat. Doch wie ich das sehe, bietet Der verlorene Sohn Interpretationsspielraum für Folgendes: Homosexuelle Handlungen ziehen Strafen nach sich. Wieso?
In einer der packendsten Szenen wird Jared von einem Kommilitonen vergewaltigt. Was passiert dank dem Filmschnitt unmittelbar danach? Jareds Eltern erfahren von der Homosexualität ihres Sohnes. Später im Film trifft sich Jared mit einem Kunststudenten namens Xavier. Die beiden verbringen eine Nacht zusammen. Direkt danach geht es für Jared zwecks Therapie zu Love In Action. Mir ist klar, dass das nicht wirklich so aufeinanderfolgend passiert is in Jareds Leben. Die Montage hat den Film nun einmal so zusammengesetzt und analysiere ich besagte Stellen, entsteht dieser (subjektive) Eindruck.
Der Mangel an Emotionen
Oh mein Gott war ich darauf vorbereitet, während des Films Rotz und Wasser zu heulen. Bei Love, Simon – einer Komödie, wohlgemerkt – sind mir die Tränen eigentlich am laufenden Band die Backen runtergelaufen. Der verlorene Sohn hat mich auf dieser Ebene leider überhaupt nicht abgeholt, obwohl es sein Markenzeichen hätte werden können. An zwei Stellen haben sich Tränen vorsichtig angekündigt, doch die Dämme hielten stand.
In einem Film, der eigentlich davon handelt, wie ein Schwuler eine Konversionstherapie durchlebt, erhielten besagte Therapiestunden entschieden zu wenig screen time. Der Fokus lag auf dem „Wie landete Jared in der Therapie?“ und „Sind die Eamons verkorkst?“. Vieles, was mit der Konversion an sich zu tun hatte, wurde leider Gottes unter den Teppich gekehrt und fand im off statt.
Ich bin nun hin- und hergerissen: Soll ich das Buch lesen? Wenn ja, auf Englisch oder auf Deutsch? I don’t know.
Boy Erased – Autobiografische Erzählung* erschien vor gut einem Jahr im Secession Verlag für Literatur. Hier steht nicht die Familie Eamons im Zentrum – die ist rein fiktiv und basiert lediglich auf den Conleys. Man könnte vermuten, dass die Vorlage demnach näher an der Geschichte selbst ist, als der Film. Aus diesem Grund überlege ich, das Buch auf meine Wunschliste zu setzen. Mal sehen.
Fazit
Wichtigkeit übersetzt sich nicht automatisch in gut, sehenswert oder award-worthy. Keine Frage ist die Botschaft, die dieser Film zu vermitteln versucht, von großer Bedeutung. Konversionstherapien müssen verboten werden! Doch ’nur‘ deswegen kann ich nicht darüber hinwegsehen, dass der Film in meinen Augen wenig richtig und viel falsch macht. Der verlorene Sohn ist in meinen Augen ein typisch amerikanisches Familiendrama mit dem Alleinstellungsmerkmal der Konversionstherapie. Jegliche Chance, ein monumentaler und wegweisender Film, nicht nur für die LGBTQ+-Gemeinde, sondern auch für die restliche Gesellschaft und nicht zuletzt die Kinolandschaft zu werden, wurde vertan. Nun bleibt lediglich zu hoffen, dass die Welt zur Vernunft kommt und diese ‚Therapien‘ bald der Vergangenheit angehören.
2.75 / 5 Sternen (wird in entsprechenden Portalen auf 3 Sterne aufgerundet)
P.S.: Im Rahmen der Blogtour #LesenGegenRechts verfasse ich folgenden Beitrag. Thema: Rechtsextremismus und Homosexualität. Schaut gerne vorbei!
Zur Sache
Titel | Der verlorene Sohn OT: Boy Erased |
Drehbuch | Joel Edgerton Basierend auf dem autobiografischen Roman Boy Erased von Garrad Conley |
Regisseur | Joel Edgerton |
Schauspieler | Lucas Hedges (Jared Eamons), Nicole Kidman (Nancy Eamons), Russel Crowe (Marshall Eamons), Joel Edgerton (Victor Sykes) |
Dauer | 114 Minuten |
Release | 02.11.2018 (USA) 22.02.2019 (Deutschland) |
Transparenz
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Der Link zum Filmplakat von Der verlorene Sohn.
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1 thought on “Der verlorene Sohn – weder monumental noch wegweisend: Warum mich der Film enttäuschte”